Vor etwa dreißig Jahren erhielt ich einen erschütternden Befund von meinem Arzt. Ich erfuhr, dass ich eine genetische Erkrankung der Augen habe, die im Laufe des Lebens zur Erblindung führen kann.  Wie bei vielen chronischen Erkrankungen, konnte jedoch der Verlauf nicht genau vorhergesagt werden. Daher war vieles unklar: Wann treten die Schübe ein, was kann sie auslösen? Wieso gibt es kein Medikament dagegen welches den Prozess stoppt oder verzögert? Wann wird es soweit sein? Damals war die einzige Möglichkeit eine Transplantation der Hornhaut, mit all ihren Risiken: Erblindungsgefahr während der OP, keine Garantie, dass es klappt bzw. wie hoch danach die Sehkraft ist, Abstoßungsreaktionen des Fremdorgans und andere Folgeprobleme. Leider sind in der Regel beide Augen betroffen, so dass es schwer fällt sich zu beruhigen: ” Na ja, ein Auge kann man ersetzen”, – keiner weiß, was wann mit dem zweiten passiert.  Mir geht es im heutigen BlogBeitrag um die Thematik: “Wie geht man damit um, wenn alles Vertraute auf einmal anders ist.”

Mit Mitte zwanzig hat man in der Regel die Zukunft im Blick, Karriere, Partnerschaft, Familienplanung. Die Krankheit hat schlagartig all dies verändert. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Es gibt schlimmere Schicksale, Krebserkrankungen, schlimme Unfälle, Tumore, Behinderungen. Aber eins ist bei allen Schicksalsschlägen gleich: Innerhalb von 24 Stunden ist  alles anders.

Nicht nur der Kranke muss die Krankheit verarbeiten lernen, das gesamte Umfeld ist davon betroffen. Freunde, Angehörige, Kollegen, der Job. Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass nicht jeder damit umgehen kann. Ich habe gelernt, dass es nichts mit dem  Kranken zu tun hat, sondern die Krankheit als solches  einigen Angst macht. Die veränderte Situation, die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Kranken. In meiner Familie wird bis heute nicht über Krankheiten gesprochen, nach dem Motto: worüber geschwiegen wird, existiert auch nicht.

Warum sind viele Menschen überfordert, wenn jemand schwer erkrankt? Natürlich löst es erstmal Panik aus, ein Gefühl der Ohnmacht oder auch Abhängigkeit. Ich konnte die Konsequenzen auf mein zukünftiges Leben selbst nicht mehr abschätzen. Bis hin zur Abwertung durch den Vater, der immer wieder betont, dass kein Mann bei einer kranken Frau bleibt, sie heiratet oder mit  ihr Kinder bekommen möchte. Heute weiß ich, dass meine Eltern selbst komplett überfordert gewesen sind. Eine Kriegsgeneration, die wahrscheinlich selbst ihre erlebten Traumata des Krieges nicht aufgearbeitet hat, wie sollten sie damit umgehen können? Heute gibt es zum Glück Selbsthilfegruppen für betroffene Familienangehörige und psychologische Begleitung für die Erkrankten, obwohl ich glaube, dass gerade bei langwierigen Erkrankungen oder nach dem Verlassen einer Reha in dieser Hinsicht immer noch viel zu wenig Begleitung erfolgt.

Es kommen natürlich  auch Floskeln  wie  “Reiß dich mal zusammen! Das wird schon wieder. Du musst positiv denken” vor. All dies mag gut gemeint sein, aber diese Phrasen helfen leider nicht. Diese Fragen lösen eher das Gefühl aus: Jetzt mach mal halblang, alles nicht so schlimm. Hilfreicher wäre es, miteinander zu reden, den Kranken zu fragen, was er jetzt braucht.  In unserer Leistungsgesellschaft ist der Umgang mit Krankheit bis heute zwiegespalten: Auf der einen Seite gibt es nach längerer Krankheit berufliche Eingliederungsmaßnahmen,  auf der anderen Seite wird jedoch erwartet, dass der Kranke möglichst schnell auch wieder zu funktionieren hat. Genau dieses Funktionieren basiert auf unserer soziologischen Entwicklung man zeigt keine Schwäche.

Der innere Heilungsprozess braucht jedoch Zeit, Zeit des Trauerns, des Loslassens und erst dann kann die Akzeptanz eintreten. Trauer um das gelebte Leben, um den geliebten Sport den man nicht mehr ausüben kann,  annehmen, dass man gewisse Dinge nicht mehr so ausführen kann wie gewohnt, bis hin zum Job-Verlust oder zur Änderung des Berufes. Manche lassen ihre  Hoffnungen fahren oder geben Wünsche in Bezug auf ihre Lebensplanung auf. Auch die Augenhöhe zum Partner verändert sich eventuell. Abhängigkeiten entstehen, die vorher nicht vorhanden waren, Abwertungen, weil man sich selbst nicht mehr vollständig fühlt. Sich auf Situationen und Beziehungen einlässt, weil man ja wieder dazugehören möchte. Die Rücksicht auf seine veränderten Fähigkeiten oder die neue Lebenssituation muss erst erlernt werden. Die Fähigkeit zu erkennen: Ich bin nicht nur meine Krankheit, sondern viel mehr.

Das Erlernen von Coping-Strategien ( s. Glossar) braucht Zeit, viele Jahre und viel Kraft. Gedanken schwirren wie Blitze durcheinander:  Was kann ich und was will ich, immer wieder Rückschläge, neue Ängste bei Kontrollterminen, das geht nicht vorbei. Aber ich glaube daran, dass man nach einem starken Einschnitt auch wieder Sinn finden kann. Wichtig ist, dass die Freunde und Angehörigen valide Informationen sammeln, sich über Patienten oder Selbsthilfegruppen informieren, gegebenenfalls Gleichgesinnte finden. Lassen Sie nicht zu, dass der Kranke sich abschottet, Ihnen eventuell etwas über die Krankheit vorspielt um falsche Hoffnungen zu erwecken. Gerade bei langjährigen chronischen Erkrankungen, bei denen sich der Stand verändern kann, helfen offene Gespräche, die Rolle des Kranken als nur eine Rolle des Lebens anzunehmen.

Sollten Sie oder Ihre Familie von diesem Thema betroffen sein, empfehle ich Ihnen: Suchen Sie sich Unterstützung zur Stärkung der Resilienz, sowie das Buch Wenn Krankheit das Leben verändert: Über den Umgang mit Brüchen im bisher Vertrauten (verstehen lernen)*.

“Auch das Unerbetene gehört zu den Dingen im Leben, die ihm Tiefe verleihen und uns die Chance geben, uns als die Gestalter unseres Lebens zu erweisen, weil wir im Angesicht dessen, was wir weder abwenden noch ändern können, doch immer noch wir selbst sein können: Wir selbst, die wir unseren eigenen Umgang mit dem Unerbetenen üben und es in deiner Weise aufgreifen, wie nur wir es können – und uns so verwirklichen.

– Giovanni Maio, aus dem Buch “Wenn Krankheit das leben verändert.” –

 

Eine Antwort zu „Die Augen sind das Fenster zur Seele“

  1. Elke Siebert

    Hallo Martina, über diesen Artikel möchte mich mir Dir bei Gelegenheit unterhalten.
    Liebe Grüße
    Elke

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